Lassen Sie uns Sprache als einen Ort denken. Als ein ungeheuer großes Museum, in dem uns die Welt da draußen erklärt wird. Wochen, Monate, Jahre, ein ganzes Leben könnten Sie in diesem Museum verbringen. Je mehr Zeit Sie dort verbringen, desto mehr Dinge begreifen Sie. Sie können eintauchen in Welten, die Sie nie selbst erlebt haben, die hier geordnet und kategorisiert aufbereitet sind, begreiflich gemacht in Namen und Definitionen. Sie finden Objekte, Lebewesen und Pflanzen aus allen Kontinenten, aber auch Ideen und Theorien, Gedanken und Gefühle, Fantasien und Träume. Längst Vergangenes, aber auch Hochaktuelles.
Es gibt zwei Kategorien von Menschen in diesem Museum: Die Benannten und die Unbenannten.
Die Unbenannten sind Menschen, deren Existenz nicht hinterfragt wird. Sie sind der Standard. Die Norm. Der Maßstab.
Unbeschwert und frei laufen die Unbenannten durch das Museum der Sprache. Denn es ist für Menschen wie sie gemacht. Es zeigt die Welt aus ihrer Perspektive. Das ist kein Zufall, denn es sind Unbenannte, die die Ausstellungen des Museums kuratieren. Sie entscheiden darüber, was gezeigt wird und was nicht, sie geben den Dingen Namen, ordnen ihnen Definitionen zu. Sie sind Unbenannte, doch sie selbst machen von der Macht der Namensgebung Gebrauch. Sie sind auch Benennende.
Ja, das Museum der Sprache eröffnet uns die Welt. Aber es erfasst sie keineswegs in ihrer Vollständigkeit, in ihrem ganzen Facettenreichtum. Es erfasst lediglich das, was die Benennenden selbst erfassen – so weit, wie deren Sinne und Erfahrungen reichen. Nicht weiter.
Die anderen Unbenannten bemerken diese Einschränkung nicht, sie bemerken nicht einmal, dass ihr Blick auf die Welt durch den anderer Menschen gelenkt wird. Wie frei und unbeschwert sie sich im Museum der Sprache bewegen können, wird erst deutlich, wenn wir die zweite Kategorie von Menschen in diesem Museum betrachten: die Benannten. Sie sind zuerst einfach nur Menschen, die auf irgendeine Weise von der Norm der Unbenannten abweichen. Anomalien im Weltbild der Unbenannten. Nicht vorhergesehen. Fremd. Anders. Manchmal auch einfach nur ungewohnt. Unvertraut. Sie erzeugen Irritationen. Sie sind nicht selbstverständlich.
Die Unbenannten wollen die Benannten verstehen – nicht als Einzelne, sondern im Kollektiv. Sie analysieren sie. Inspizieren sie. Kategorisieren sie. Katalogisieren sie. Versehen sie schließlich mit einem Kollektivnamen und einer Definition, die sie auf die Merkmale und Eigenschaften reduziert, die den Unbenannten an ihnen bemerkenswert erscheinen. Das ist der Moment, in dem aus Menschen Benannte werden. In dem Menschen entmenschlicht werden.
Diese Menschen, die nun keine mehr sind – die Benannten –, leben sorgfältig katalogisiert in Glaskäfigen, beschriftet mit ihren Kollektivnamen. Wir betrachten sie durch die Augen der Unbenannten: gesichtslose Wesen, Bestandteile eines Kollektivs. Jede ihrer Äußerungen, jede ihrer Handlungen wird auf das Kollektiv zurückgeführt, Individualität wird ihnen nicht zugestanden. Den Unbenannten, die sie betrachten, erscheint das als normal, obwohl für sie selbst Individualität die Grundlage ihres Seins ist.