Jonas reviewed Wasteland by Christian Vogt
Hoffnung in der Dystopie (sorry: lange, wortreiche Rezi)
4 stars
„Wasteland“ von Judith und Christian Vogt ist ein temporeicher post-apokalyptischer Roman, dessen dystopische Welt auch Ansätze einer Utopie birgt. Die Geschichte um zwei junge Menschen, die ums Überleben kämpfen, zusätzlich aber auch noch einem Rätsel auf der Spur sind, ist spannend geschrieben.
Im Jahr 2064, in dem die Geschichte spielt, leidet die Welt immer noch an den Folgen eines Krieges etwa 25 Jahre zuvor, in dessen Zuge auch Kampfstoffe eingesetzt wurden, die die bewohnten Gebiete tödlich verseuchten. Noch immer sind viele Regionen Todeszonen. Wer überleben will, bewegt sich in den unverseuchten Bereichen. Hier herrschen Gangs wie die Brokes, mit toxischem Dominanzgebaren und Freude an Gewalttätigkeit. Außerdem gibt es religiöse Gruppen, die auf diejenigen herabsehen, die an andere Wahrheiten glauben als sie selbst. Als eine utopische Oase im Ödland wird der Handgebunden-Markt gezeigt, an den die eine Hauptfigur, Laylay, per Motorrad mit ihrem Vater reist. Hier lebt Zeeto, der andere Protagonist, …
„Wasteland“ von Judith und Christian Vogt ist ein temporeicher post-apokalyptischer Roman, dessen dystopische Welt auch Ansätze einer Utopie birgt. Die Geschichte um zwei junge Menschen, die ums Überleben kämpfen, zusätzlich aber auch noch einem Rätsel auf der Spur sind, ist spannend geschrieben.
Im Jahr 2064, in dem die Geschichte spielt, leidet die Welt immer noch an den Folgen eines Krieges etwa 25 Jahre zuvor, in dessen Zuge auch Kampfstoffe eingesetzt wurden, die die bewohnten Gebiete tödlich verseuchten. Noch immer sind viele Regionen Todeszonen. Wer überleben will, bewegt sich in den unverseuchten Bereichen. Hier herrschen Gangs wie die Brokes, mit toxischem Dominanzgebaren und Freude an Gewalttätigkeit. Außerdem gibt es religiöse Gruppen, die auf diejenigen herabsehen, die an andere Wahrheiten glauben als sie selbst. Als eine utopische Oase im Ödland wird der Handgebunden-Markt gezeigt, an den die eine Hauptfigur, Laylay, per Motorrad mit ihrem Vater reist. Hier lebt Zeeto, der andere Protagonist, in einer inklusiven Gemeinschaft, die von Solidarität und Toleranz geprägt ist. Die Leute vom Markt bezeichnen sich selbst als „Hoper“, die Mitglieder der Gangs erhalten hingegen „Toxxer“ als Fremdbezeichnung. Das Worldbuilding ist effektiv und leichtfüßig mit der Story verflochten, indem wir die Geschichte kapitelweise aus der Sichtweise je einer der beiden Hauptfiguren erzählt bekommen. Aspekte der Welt werden nach und nach eingeführt, wenn es sich organisch ergibt. Zeetos Ich-Erzählung ist in der Gegenwartsform geschrieben, Laylay berichtet in der Vergangenheitsform. Vereinzelt tritt als dritte Erzählperspektive noch eine Nebenfigur hinzu: Root, eine Art Tech-Priester der Brokes. Seine Kapitel sind nicht in der ersten, sondern in der dritten Person geschrieben. Durch die Perspektivwechsel kommt keine Langeweile auf, und die Beschreibung der Welt ist nie Selbstzweck, sondern dient stets der Handlung. Zusätzlich wird sie hier und da mit einer Portion Meinung der jeweiligen Erzählstimme gesalzen.
Der Roman hat mir sehr gut gefallen. Die Handlung ist reich an Action und Tempo, das Setting ist mit vielen guten Ideen unterfüttert – von Aussagen über die Tier- und Pflanzenwelt bis hin zu Beschreibungen der über die Apokalypse hinweg geretteten Technologie. Die Geschichte wird abwechslungsreich und mit Witz und Wucht erzählt, die Vögte halten sich nicht zurück. Das Finale empfand ich allerdings als zu hektisch und überladen. (Ähnlich ging es mir mit der Verlorenen Puppe, einem anderen Roman des Schreibteams: Auch hier waren mir, bildlich ausgedrückt, die Regler am Schluss zu rasant hochgedreht.) Ganz sicher bin ich nicht, aber vermutlich ist mir die Steigerung des Tempos jeweils zu abrupt. Für andere mag genau das ein Pluspunkt sein. Der Schwenk zurück zu mehr erzählerischer Ruhe im kurzen, letzten Teil des Romans ist wiederum gelungen.
Schön finde ich Symmetrien wie die Tatsache, dass im ersten Teil Zeeto hinter Laylay auf dem Motorrad sitzt, das Baby zwischen ihnen. Am Schluss hingegen sitzt Zeeto vorn, Laylay hinten, das Baby wieder zwischen ihnen. Gefallen hat mir auch der sprachliche Humor und die leicht nerdig angehauchten Anspielungen, die in den Roman eingestreut sind. Beispielsweise freu ich mich darüber, dass auch in der Postapokalypse noch Rollenspiele gespielt werden. :) Weitere Highlights, beliebig herausgepickt: - Die Aussagen über Liebe auf S. 236f. (Auch Zeetos Begründung, warum er Laylay liebt: S. 238). - Die Sexszene mit allen „unpassenden“, unerotischen Gedanken und Elementen: Großartig! - Das G-Max - Root wird im Futur II gesprochen haben. Simpel, schräg, geniale Idee.
Im folgenden geht es um Inklusion und Hopepunk, zwei Stichworte, die im Zusammenhang mit dem Roman fallen: Mir gefällt auch, dass sich der Roman in vielfältiger Weise um Inklusion bemüht. Das ist heute leider noch eine Ausnahme, weswegen ich es hervorheben und den Autor*innen und dem Verlag dafür danken möchte. Eine unauffällige Zeile über dem Impressum weist auf die Inhaltswarnungen am Ende des Buches hin. Noch gibt es keine Standards zu Inhaltswarnungen (weder zu ihrer Platzierung noch zu ihrer Ausgestaltung) – vielleicht wäre es sinnvoll, zu differenzieren, in welchen Teilen eines Romans die potenziellen problematischen Inhalte jeweils vorkommen? Der Roman ist gendergerecht geschrieben und verwendet z.B. für einen Nebencharakter nichtbinäre Pronomen, hat in Laylay eine pummelige Heldin und mit Zeeto eine sehr respektvoll dargestellte bipolare Hauptfigur, die im Lauf der Handlung erst depressiv, später manisch ist. Wasteland hat darüberhinaus einen Cast, der in Bezug auf Ethnie oder Hautfarbe divers ist. Nichts davon wird mit der Keule oder einem Zaunpfahl in die Geschichte forciert, sondern unaufgeregt als natürliche Gegebenheit eingeflochten und kaum kommentiert – abgesehen davon, dass Zeeto seine Bipolarität in „seinen“ Kapiteln eingehend beschreibt, weil er auch für sich selbst (im wörtlichen Sinne) Buch führt, wie es ihm geht und wie seine Phasen verlaufen. Das alles passt dazu, dass die Autoren dem Roman ein Zitat von Avery Alder vorangestellt haben, in dem sie dafür plädiert, sich von Normalvorstellungen zu lösen, wie Menschen und ihre Körper sein sollten, und statt dessen die Abweichungen, die Weirdness und Einzigartigkeit aufzuwerten. Sie fragt: Wie sähe eine Gemeinschaft aus, die uns mit all unseren Eigenheiten akzeptiert und unterstützt? Wird der Roman dem gerecht? Der Handgebunden-Markt ist ein Versuch einer solchen inklusiven Gesellschaft. Allerdings steht diese Gemeinschaft und ihr Funktionieren (und die erforderlicher Arbeit an der Gemeinschaft und an sich selbst) nicht im Fokus des Romans – dieser dreht sich statt dessen um die äußeren Bedrohungen, denen die Hoper ausgesetzt sind, sowie um das Rätsel des Babys aus dem Ödland-Bunker. Am Schluss, mit den neu gewonnenen Erkenntnissen, scheint die inklusive, solidarische Gemeinschaft aus Alders Zitat utopischer denn je, und auch die Hoffnung der Hauptfiguren richtet sich nicht auf diese Utopie, sondern zunächst weiter auf Zeetos Überleben, in der Hoffnung auf ein Heilmittel. Die Aussichten sind gering, aber die Hoffnung in Wasteland ist nun mal nicht groß und glänzend, sondern klein und störrisch. Wasteland wirbt mit dem Label „Hopepunk“. Das ist kein Genre, eher ein Mindset, dem sich bestimmte Literatur zuordnen lässt, aber der Begriff ist noch zu jung und wird noch manchen Verhandlungen ausgesetzt sein, als dass eine allgemeingültige Definition absehbar wäre. www.deutschlandfunk.de/hoffnungsvolle-science-fiction-hope-punk-is-not-dead.807.de.html?dram:article_id=466981 www.tor-online.de/feature/buch/2019/10/hopepunk-alles-was-du-ueber-das-genre-wissen-musst/ www.teilzeithelden.de/2020/01/31/was-ist-hopepunk-der-lange-weg-zu-einem-vagen-nebuloesen-genre/ Judith C. Vogt schreibt auf ihrer Homepage über ihr Verständnis von Hopepunk, und erteilt darin auch der Utopie eine Absage. Überspitzt gesagt mündet das in einen Hopepunk, der grimdark ist: Es ist düster, aber wir geben nicht auf. Wasteland ist Hopepunk ohne Happy End, denn ein Happy End braucht keine Hoffnung, keinen Widerstand gehen die herrschende Weltordnung. Das Ende ist wie der ganze Roman ein hartnäckiges, die Zähne zusammenbeißendes Trotzdem. Vogt spricht von radikaler Güte als einem zentralen Merkmal der Hopers in Wasteland: „Wir brauchen hoffnungsvolle Geschichten, mit denen wir klar machen: Freundlich zu sein, bedeutet nicht, schwach zu sein oder wehrlos. Aber es ist ein radikaler Akt, denn es ist so viel einfacher, ein Monster zu sein.“ www.jcvogt.de/ihr-seid-hopers/ Für meinen Geschmack hätte die radikale Güte, die durch die Gemeinschaft des Handgebunden-Markts verkörpert wird (und die nicht mit Gewaltfreiheit zu verwechseln ist), im Roman stärker gemacht werden können. Sie wirkt auf mich eher wie eine bloße Gegebenheit des Settings. Zwar wird sie vereinzelt hinterfragt. Aber sie wird nicht erkämpft. Natürlich braucht sie keine Begründung oder Rechtfertigung. Aber wenn sie das Kernelement des Vogt‘schen Hopepunks ist, müsste sie dann nicht etwas kosten, müsste sie nicht verdient werden, um im Roman auch Gewicht zu erhalten? Dass die unbedingte Menschlichkeit für die Marktgemeinschaft ihren Preis hat, wird am Schluss gezeigt. Aber auch hier bleibt ausgeblendet, wie die Gemeinschaft darüber spricht, ob sie ihr Verhalten und ihre Werte zur Disposition stellen oder nicht. Denn natürlich, und das ist mir wichtig, haben sie die Wahl. Dass ich mir in Anbetracht der Hopepunk-Erklärung im Vogt‘schen Blog wünsche, dass die radikale Güte der Hopers und die Anstrengungen, die meiner Einschätzung nach für sie nötig sind, einen größeren Stellenwert gehabt hätten, schmälert aber nicht meine Wertschätzung, dass eine menschenfreundliche, gütige, inklusive und wehrhafte Gemeinschaft dargestellt wird. Wir brauchen mehr davon.
Ich muss offen zugeben, dass ich nicht sicher bin, ob ich dafür ein eigenes Label wie „Hopepunk“ brauche. Aber ich bin froh, dass – egal unter welchem Schlagwort – diskutiert wird, wie Literatur in der Gegenwart um neue Narrativen ringt, um auszubrechen aus Erzähl- und Denkmustern. Und natürlich ist es nützlich, Begriffe zu haben, an und mit denen sich Debatten entzünden und Identifikationen bilden können. Hoper sein – Hoper werden – ist anstrengend. Es ist mir die Mühe wert.
Worum dreht sich die Geschichte? (SPOILER)
Bei einem Ausflug zu einem Bunker im Ödland findet Zeeto ein Baby. Der Rückweg zum Handgebunden-Markt gestaltet sich schwierig, und Zeeto infiziert sich mit der tödlichen Krankheit. Laylay findet ihn mit dem Baby und bringt beide zurück zum Markt. Bald stellen sie fest, dass das Baby nicht erkrankt ist (anders als Zeeto), und dass die Brokes ein überraschendes Interesse an dem Kind an den Tag legen. Das Vorhaben, den Bunker im Ödland näher zu untersuchen, führt zu einer Eskalation sowohl mit den Brokes als auch zwischen Laylay und ihrem Vater Azmi.
Im folgenden muss Laylay einen halben Kontinent und ähnliche große Gewissensbisse überwinden, während Zeeto sich mit seinem bevorstehenden Tod arrangieren, gleichzeitig aber für das Überleben des Marktes und gegen eine Mega-Depression kämpfen muss. Als Laylay und Zeeto schließlich gemeinsam den Bunker erkunden, wird Laylay von unerklärlichen körperlichen Veränderungen geplagt. Sie begegnen denjenigen, die versteckt im Bunker leben, und… jetzt verrate ich lieber doch nicht alles. ;) /SPOILER
Die innere Konsequenz und Logik muss meines Erachtens ein paar kleinere Lücken oder Schlaglöcher aushalten, das bleibt aber im Rahmen dessen, was z.B. auch im Blockbuster-Kino üblich ist. ;) Beispielsweise: Was geschah mit der Mutter von Mtoto? Warum starb sie, warum blieb das Baby bei ihr? Dafür, dass in diesen Ereignissen die Initialzündung für viele Elemente der Handlung liegen, ist es unbefriedigend, dass die unbeantwortet bleiben, zumal die Fragen rund um diese Geschehnisse immer wieder erhoben werden. Und sie hätten in Teil 4 beantwortet werden können. Warum wagt Azmi es nicht, für mehrere Wochen oder Monate in einer Gemeinschaft zu bleiben? Laylays Besonderheiten reichen als Begründung kaum aus. Sie nimmt Medikamente und bleibt dadurch unauffällig. Ich könnte spekulieren, dass er befürchtet, Laylays Mutter könnte sie finden, wenn sie zulange irgendwo bleiben, aber… das wirkt an den Haaren herbeigezogen. Wie infiziert man sich mit der Wasteland-Krankheit? Es scheint über Hautkontakt mit verseuchter Flüssigkeit zu passieren, offenbar auch über die Atemwege. Aber warum nimmt Zeeto dann im Bunker die Atemmaske ab (S. 279)? Er kann ja nicht davon ausgehen, dass die Luft gefiltert wird. Warum tötet Laylay Louis (S. 380)? Die Erklärung, er sei im Weg, wirkt dünn. Muss Laylay annehmen, er hätte sie im Kampfgetümmel an der Flucht gehindert? Auch dramaturgisch wird mir die Funktion dieses Elementes nicht recht klar. Es bleibt für mich irritierend, und ich haben den Eindruck, als seien Unklarheiten wie diese der Hektik des Finales geschuldet.
Gibt es bei den Brokes Babys und Kleinkinder? Gibt es Familien? Dass das Thema nicht breit und ausführlich dargelegt werden kann, leuchtet mir ein. Aber es ist ein bisschen schade, dass es völlig ausgeblendet bleibt. Ähnliches gilt für traditionelle Diskriminierungen (Rassismus, Ableismus usw.): Es erscheint unglaubwürdig, dass eine Gemeinschaft, die von Hierarchiedenken und Gewalt geprägt ist, diese Schablonen auch in einer dystopischen Zukunft nicht mehr verwenden würde. Ich verstehe, dass dafür narrativ in Wasteland kein Platz gewesen wäre, und verstehe auch, dass die Gang der Brokes nicht bloß eine Verlängerung eines zeitgenössischer Merkmalbündels sein soll. Der Mangel an Details zu diesen und anderen Fragen führt aber dazu, dass die Brokes als Gemeinschaft etwas flach bleiben.