Er ruft mir hinterher: »Zu mir sagt keine Frau Nein!«
Frauen werden gedemütigt und belästigt im häuslichen Umfeld, im Internet und natürlich im öffentlichen Raum, das ergab ein Lagebild des Bundeskriminalamtes zum Thema Gewalt an Frauen von 2023. Wir haben eine 17-jährige Münchnerin gebeten, ein Jahr lang Protokoll zu führen über die Übergriffigkeiten, die sie auf der Straße erlebt. Es wirft viele Fragen auf: Ab wann wird man als Frau zum Objekt? Wie weit dachten wir als Gesellschaft in Sachen Sexismus nach MeToo zu sein? Wie weit sind wir tatsächlich?
Januar 2024, ca. 23 Uhr, U-Bahn-Untergeschoss Marienplatz
Ich laufe nachts mit einem Freund durch einen Baustellen-Durchgang. Wir kommen an Arbeitern mit gelben Warnwesten vorbei, die uns unfreundlich am Weitergehen hindern wollen. Mein Freund sagt: »Wir dürfen hier entlanggehen.« Die Bauarbeiter lachen und rufen: »Du kannst sie ja hierlassen.«
April 2024, ca. 2 Uhr nachts, U-Bahn-Station Implerstraße
Ich steige mit meinem Freund in die U-Bahn ein. Ein vermutlich betrunkener Mann stänkert Fahrgäste an. Er fragt uns nach Feuer, will sich eine Zigarette anzünden. Mein Freund kramt nach einem Feuerzeug. Ich sage, hier dürfe man nicht rauchen. Da fängt er an, mich zu beleidigen: »Du Schlampe, ich weiß, dass du mit jedem fickst, jeden Tag fickst du ’nen anderen …« Außerdem habe er ein Messer und werde erst sich und dann mich »aufschlitzen«. Dann spuckt er mich an. Ich halte meinen Freund davon ab, sich mit ihm zu prügeln. Wir verlassen die U-Bahn. Keiner in der U-Bahn schritt ein oder kam uns zu Hilfe.
- April 2024, 15 Uhr, Brudermühlstraße
Ein Mann auf einem Motorrad fährt in Schrittgeschwindigkeit neben mir her, schwenkt auf den Gehweg ein und schneidet mir mit seiner Maschine den Weg ab. Er nimmt den Helm ab, er hat graue Haare, und sagt: »Du bist mir aufgefallen.« Ich antworte: »Schön für dich, du mir nicht.« Daraufhin er: »Wollen wir was trinken gehen?« Ich antworte: »Nein danke, ich habe schon einen Vater.« Und gehe weiter.
- April 2024, ca. 16 Uhr, Fußgängerzone
Ein Mann mittleren Alters, der mich schon einmal angesprochen hat, baut sich vor mir auf: »Hey, dir gefällt mein Style. Äh, mir gefällt dein Style.« Offenbar seine Masche. Ich sage, dass ich ihn schon einmal abgewiesen habe. Er entgegnet: »Ich werde es immer wieder versuchen, und irgendwann kommen wir zusammen.« Ich sage: »Meine Meinung wird sich nicht ändern.« Sein Ton wird bedrohlich: »Ich werde immer wieder kommen.«
Ende April 2024, Stachus-Untergeschoss
Zwei Männer, Mitte 20, drängen mich ab und umringen mich. Der eine sagt, er bräuchte »ein hübsches Mädchen zum Ficken«. Und dass er seine Ex-Frau geliebt habe, weil sie »so gut kochen konnte«. Ich wende mich ab und gehe weg. Er ruft mir hinterher: »Zu mir sagt keine Frau Nein!«
- Mai 2024, kurz nach Mitternacht, Hauptbahnhof
Meine Freundin und ich essen in unserer Lieblingsdönerbude am Hauptbahnhof. Als wir fertig sind, frage ich eine der Angestellten, ob ich die Toilette benutzen darf. Sie verneint, und wir verlassen das Lokal. Zwei Mitarbeiter, beide Mitte 30, gehen uns hinterher und meinen, dass wir nun doch aufs Klo gehen können. Also gehen wir zurück ins Lokal und auf die Toilette im ersten Stock. Wir sind zu zweit in einer Kabine, so fühlen wir uns sicherer, als wir hören, wie die beiden Männer die Treppe hochkommen. Sie rufen etwas Unverständliches und versuchen, die Klinke unserer Kabinentür runterzudrücken. Ich hole das Pfefferspray aus meiner Handtasche, und wir verlassen die Kabine, um die Hände zu waschen und aus der Situation herauszukommen. Die Männer stehen immer noch in der Frauentoilette. Sie sagen: »Seid ihr schon 18? Habt ihr Lust auf Spaß?« Seitdem gehen wir nicht mehr dorthin.
- Mai 2024, abends, Kolumbusplatz
Ein Mann, Mitte 50, spricht mich an, ob ich mit ihm etwas trinken gehen wolle. Ich antworte: »Nein, ich habe einen Freund und bin minderjährig.« Er: »Aber das ist doch kein Problem.«
- Juni 2024, 19 Uhr, Marienplatz
Ein Mann um die 30 hält mich an. Ich nehme meine Kopfhörer heraus: »Hey, du hörst ja gar nichts.« Ich antworte: »Ich höre Musik.« Er sagt: »Schau mal hinter dich, siehst du die zwei Jungs auf der Rolltreppe? Die laufen dir schon die ganze Zeit hinterher und rufen nach dir. Sie trauen sich nicht, dich anzusprechen. Aber ich trau mich.« Er stellt sich vor und reicht mir die Hand. Ich will weitergehen. Der Mann sagt: »Komm schon, aus Höflichkeit gibt man sich die Hand. Ich will dich nur kennenlernen!« Ich sage, dass ich keine Lust habe, ihm die Hand zu geben. So geht es ein paarmal hin und her, bis er endlich ablässt von mir, mit dem Satz: »Ist mir egal, ich habe eh genug Frauen.«
- Juni 2024, 19.30 Uhr, Stachus-Untergeschoss
Ein Mann läuft an mir vorbei, macht kehrt und fängt mich ab. »Du hast mich gerade so flirty angeschaut. Und ich dachte, ich kann dir doch keinen Korb geben.« Ich sage: »Nein, habe ich nicht.« Er antwortet: »Du Schlingel!« Ich: »Ich bin 17!« Er: »Oh! Da können wir natürlich nichts machen. Wann wirst du denn 18?« Ich bin so übertölpelt, dass ich sage: »Dauert noch.« Daraufhin er: »Na, dann bis zum nächsten Jahr!«
- Juni 2024, 20 Uhr, Hauptbahnhof-Untergeschoss
Ein Amerikaner, Mitte 20, spricht mich an. Er fasst mich am Gürtel und zieht mich zu sich heran. Ich sage, er soll das lassen, aber er lässt nicht locker. Er fragt nach meinem Instagram-Konto und meiner Handynummer. Dann reiße ich mich los und gehe weiter.
- Juni 2024, ca. 22 Uhr, Hirschgarten
Meine Freundin und ich sind auf dem Weg zu einer Party. Wir kommen an einem Kiosk vorbei. Dort sprechen uns zwei Männer, Mitte 40, an. Als wir gehen wollen, gehen sie einfach mit. Sie legen ihren Arm um unsere Taillen und ziehen uns zu sich. Ich schreie, sage, sie sollen das lassen. Wir laufen weg. Sie verfolgen uns. Wir verstecken uns in einem Gebüsch an der Landsberger Straße. Es regnet. Wir sehen, wie sie davor warten. Ich nehme meinen Mut zusammen, gehe raus und drohe ihnen, die Polizei zu rufen. Erst dann gehen sie.
- Juli 2024, 16.58 Uhr, Fußgängerzone
In einem Drogeriemarkt spricht mich ein älterer Mann an: »Ich komme aus Marokko, wo schaust du Deutschland–Spanien an?« Ich antworte: »Bei Freunden von mir.« Er sagt: »Wir sehen uns später.« Er drückt mich an seine Brust und küsst mich auf beide Wangen.
- Juli 2024, 16.56 Uhr, InnenstadtEin Mann hält mich auf und fragt nach meinem Instagram-Konto.
- Juli 2024, 23.06, Claude-Lorrain-Straße
Ich sitze allein an einer Bushaltestelle, als ein Mann auf einem Rad an mir vorbeifährt. Drei Minuten später kommt er zurück und sagt: »Was kann man denn heute Abend noch machen? Du schaust nach München aus.«
- Juli 2024, nachmittags, Innenstadt
Ein Mann hält mich auf: »Kann ich Selfie machen? Mit hübschem Mädchen?« Ich gehe weiter.
- August 2024, 22 Uhr, Frühlingsanlagen
Ein afrikanischer Mann mittleren Alters heftet sich an meine Fersen. Er erzählt von seinem Land und sagt, er mache Fußmassagen. Dann bückt er sich und beginnt, meine Füße zu kneten. Meine Freundin kommt dazu, erst dann lässt er ab.
- September 2024, 16 Uhr, Humboldtstraße
Ich bin auf dem Weg zur Kasse eines Drogeriemarktes, als eine Mitarbeiterin mich anspricht: »Darf ich dir was sagen? Die Jungs hinten an der Überwachungskamera schwärmen schon wieder von dir: Habt ihr die Granate gesehen?«
- September 2024, 17 Uhr, Innenstadt
Ich gehe an einem Café vorbei, als ein Kellner mich anspricht: »Was machst du heute noch? Komm, wir trinken was zusammen.«
- September 2024, 17.07 Uhr, Innenstadt
Ein Englisch sprechender Mann, Mitte 50, will mit mir ins Gespräch kommen. Ich sage: »I’m underage.« Er: »Oh, big apologies!«
- September 2024, abends, Häberlstraße
Ich warte auf Freunde, als ein Mann auf dem Fahrrad anhält, um mit mir ins Gespräch zu kommen. Er lässt erst locker, als meine Freunde kommen.
- September 2024, ca. 20 Uhr, Innenstadt
Ein Mann hält mich an, streckt mir die Hand entgegen und fängt an, mich anzuquatschen. Ich winke ab, sage meinen üblichen Spruch, dass ich vergeben sei. Er: »Du hast einen Freund? Wie lange hast du das Problem schon?« Ich antworte: »Das ist kein Problem.« Er: »Doch, aber du hast Glück, denn jetzt steht dein Traummann vor dir!« Ich gehe weiter.
- September 2024, ca. 18 Uhr, Theatinerstraße
Ein Englisch sprechender Mann hält mich an: »I actually wanted to go this way, but then I saw you …« Ich gehe weiter.
- September 2024, 21 Uhr, Humboldtstraße
Mein achtjähriger Bruder war mit mir bei meiner besten Freundin. Als er an meiner Hand mit mir nach Hause geht, kommt ein Mann mit Flasche auf uns zu, vermutlich betrunken, und ruft: »Schau mal, wie die ausschaut! Und die kann immer noch nicht richtig ficken, Oida!« Wir gehen zügig weiter, während er uns verfolgt und weiter wirr beschimpft. Ich verspreche meinem verängstigten Bruder, ihn zu beschützen, habe aber selbst Angst.
- Oktober 2024, nachmittags, Humboldtstraße
Ich gehe die Straße entlang, als ein Mann, vermutlich Oktoberfest-Gast, mich unvermittelt und lallend anschreit: »Deine Titte hängt ja raus!«
- Oktober 2024, 7.54 Uhr, Luisenstraße
Auf dem Weg zur Schule verfolgt mich ein Mann, um die 30, vom U-Bahn-Geschoss Hauptbahnhof fast bis zur Schule, um mir dann an der Schulpforte ein Kompliment zu machen.
- November 2024, 19 Uhr, Wittelsbacherbrücke
Ein Wolt-Fahrer auf dem Rad hält neben mir an. Er fängt an, Arabisch in sein Handy zu sprechen, und zeigt mir die deutsche Übersetzung auf seinem Bildschirm. Da stehen viele Komplimente. Ich antworte auf Englisch, dass ich einen Freund habe und gehen will, ich spreche sogar in sein Handy, aber er lässt nicht ab. Er bittet per Handyübersetzer um ein Foto. Ich erwidere auf Englisch, dass ich gehen muss. Er zeigt wieder sein Handy, bittet um eine Umarmung, ich verneine, er will mir die Hand geben. Er fährt erst weiter, als ich weitergehe.
https://sz-magazin.sueddeutsche.de/leben-und-gesellschaft/sexismus-belaestigung-metoo-alltag-flirten-94614
#Frauenalltag #MeToo