Ein Punkt, alle Welten – Meine Begegnung mit Jorge Luis Borges’ Das Aleph
4 stars
Das Aleph von Jorge Luis Borges zu lesen, war für mich wie das vorsichtige Öffnen einer Tür, hinter der nicht nur ein Raum, sondern unendlich viele Räume liegen. Die titelgebende Erzählung, eine der bekanntesten aus Borges’ Werk, beginnt fast unscheinbar: mit der Erinnerung des Erzählers an eine verlorene Liebe, Beatriz Viterbo, und seinen jährlichen Besuchen bei ihrem Cousin Carlos Argentino Daneri.
Daneri ist eine exzentrische Figur, die sich in ein ambitioniertes, aber literarisch fragwürdiges Projekt verrannt hat: ein Gedicht, das die gesamte Erde beschreibt. Erst nach und nach enthüllt er dem Erzähler das Geheimnis seines Hauses – im Keller, so behauptet er, befindet sich das Aleph, ein Punkt im Raum, der alle anderen Punkte enthält.
Als der Erzähler schließlich in das Aleph blickt, beschreibt er das Unmögliche: Er sieht die gesamte Welt, jeden Ort, jeden Menschen, jede Handlung, gleichzeitig und aus allen Perspektiven. Ich las diese Passage mit einer Mischung …
Das Aleph von Jorge Luis Borges zu lesen, war für mich wie das vorsichtige Öffnen einer Tür, hinter der nicht nur ein Raum, sondern unendlich viele Räume liegen. Die titelgebende Erzählung, eine der bekanntesten aus Borges’ Werk, beginnt fast unscheinbar: mit der Erinnerung des Erzählers an eine verlorene Liebe, Beatriz Viterbo, und seinen jährlichen Besuchen bei ihrem Cousin Carlos Argentino Daneri.
Daneri ist eine exzentrische Figur, die sich in ein ambitioniertes, aber literarisch fragwürdiges Projekt verrannt hat: ein Gedicht, das die gesamte Erde beschreibt. Erst nach und nach enthüllt er dem Erzähler das Geheimnis seines Hauses – im Keller, so behauptet er, befindet sich das Aleph, ein Punkt im Raum, der alle anderen Punkte enthält.
Als der Erzähler schließlich in das Aleph blickt, beschreibt er das Unmögliche: Er sieht die gesamte Welt, jeden Ort, jeden Menschen, jede Handlung, gleichzeitig und aus allen Perspektiven. Ich las diese Passage mit einer Mischung aus Staunen und Überforderung. Borges’ Sprache ist hier präzise wie ein Skalpell und zugleich überwältigend in ihrer Fülle.
Mich beeindruckte, wie das Aleph selbst zu einer Metapher für Literatur wird – oder vielleicht für das menschliche Bewusstsein. Alles ist gleichzeitig vorhanden, aber wir können immer nur Fragmente erfassen. Das Gefühl, etwas Unfassbares berührt, aber nicht festhalten zu können, blieb auch nach der Lektüre.
Gleichzeitig spielt Borges mit Eitelkeit, Rivalität und Vergänglichkeit: Der Erzähler verachtet Daneri, zweifelt an dessen Talent, und doch verdankt er ihm den Blick ins Aleph. Das Übermenschliche und das Allzumenschliche liegen hier eng beieinander.
Das Aleph war für mich mehr als eine fantastische Erzählung. Es war ein Spiegel, der mir zeigte, wie klein mein Blickfeld ist – und wie unendlich groß es in einem einzigen Augenblick werden kann. Ein kurzer Text, der sich anfühlt wie eine Ewigkeit.