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Tara Westover: Educated (Hardcover, 2018, Charnwood) 4 stars

Review of 'Educated' on 'Goodreads'

3 stars

Ich bin hin- und hergerissen wegen diesem Buch.
Was ich gutgemacht finde, ist wie intim und genau Tara ihre Familie kennt. Wie sie die verschiedenen Formen und Verwandlungen der Gewalt beschreibt, die sie und andere innerhalb der Familie erleben. Ich glaube ihr jedes Wort, jede Geste ihres Bruders Shawn, des Vaters und ihrer Mutter. Jede neue Allianz innerhalb dieser intimen Runde, und wie schnell sich die Macht wieder verschiebt. Sie schafft es sogar, dass ich wütend auf sie werde, wütend auf eine Person, die immer noch ,,stuck" ist bei ihrer Familie, weil sie wieder und wieder neu sich einredet, sie kann das alles reparieren. Wütend bis zu einem Frust sogar, der mir das Buch fast unleidlich macht. Bei jedem neuen Gewaltausbruch denkt man, so das ist der Showdown; aber mitnichten. Schwer bei Memoiren sich über den Plot zu beschweren, aber bei jedem anderen Buch hätte ich geschrieben: Das ist VIEL zu viel Gewalt, das Buch mag ich nicht.

Was ich nicht verstehe, ist dass das Buch trotz allem ein Angebot an ihre Mutter bleibt. Sie schreibt das alles auf, all die Gewalt, die ihre Mutter gesehen, abgenickt, zugelassen hat und trotzdem, auf den letzten Seiten des Buches wirbt sie immernoch um sie, Jahre nachdem die Mutter sich von ihr abgewandt hat. Das bricht mir das Herz tatsächlich.

Was ich schon schwierig finde, ist wie die Autorin verschiedene Dinge in dem Buch mischt und es als Diagnose ihrer Familie repräsentiert. Ihre Familie ist anfangs arm, ihr Vater und ihr Bruder sind beide vermutlich bipolar oder schizophren, sie sind Mormonen von der fundamentalistischen Sorte, die die sich WIRKLICH auf Armageddon vorbereiten; Bunker planen, Essen und andere Dinge horten für das Ende der Welt. Zudem misstrauen sie der Regierung, schicken ihre KInder nicht zur Schule, geben ihnen auch sonst keine Bildung und hassen Krankenhäuser und Ärzte so sehr, dass sie ihre eigene krude homöopathische ,,Praxis" aufbauen. Diese Tatsachen beeinflussen sich alle gegenseitig, na klar. Trotzdem stört mich gewaltig, dass Tara ihren Vater erst fremddiagnostiziert, dann seine fanatischen Überzeugungen damit erklärt, dass er eine psychische Krankheit hat. Die binäre Welt, die Tara da überhaupt in ihrer Story aufmacht - auf der eine Seite die gestörte gewaltvolle religiös extreme Familie mit Verschwörungstheorien, auf der anderen Seite die gute Welt mit Wissen und BIldung, und gesunden Menschen, die gesunde Beziehungen führen, da liegt eine Verblendung drin. Nicht die Krankheit hat ihren Vater so gemacht, sondern dass er diese Überzeugungen bewusst ANNIMMT und HEGT. Bipolare Menschen sind nicht per se gewaltvoll, rückständig und misogyn. Andersherum wäre es angenehm gewesen, hätte die Autorin mal aufgemacht, dass auch gebildete, reiche, psychisch gesunde Menschen ihre Familien unterdrücken oder Gewalt anwenden, hätte mit mehr Ambiguität diese neue Welt beschrieben, in die sie da eintrat und die für viele Fundis grade wegen dieser Ambiguität und den fehlenden Ankern so erschreckend wirkt.

Was mich besonders störte, war die Mär von der guten Regierung. Tara musste ihr ganzes Leben lang umgehen mit den Verschwörungstheorien ihres Vaters und hat diese zurecht kritisiert. Aber sie macht da wieder eine komische Binarität auf - kaum öffnet sie sich für die Möglichkeiten, die ihr das öffentliche Leben bietet - Bildung, Stipendien, Studienreisen - alles fliegt ihr zu. Alle wollen ihr Geld geben, alle wollen sie zu Harvard schicken. Sie stellt es erstens so dar, als sei es selbstverständlich. Es gibt keine alternativen Erzählungen dazu - keine Leute, die ewig auf finanzielle Unterstützung vom Amt warten müssen oder es nie bekommen oder gar nicht dazu kommen von der bescheidenen Mormonen-Uni auf die sie geht, einen Platz in Cambridge zu bekommen, einfach weil ihr Professor sie klug findet.

Zweitens missversteht sie, wieso eine Regierung so handelt. Wenn sie immer wieder die absurd-komisch wirkenden Überzeugungen ihres Vaters kritisiert, missversteht sie, dass eine Menge anderer Gläubiger genau dasselbe wie ihr Vater glauben. Die sind aber nich erstmal in erster Linie religiös, sondern Staatsbürger. Die wählen Politiker, bilden sich, gehen zu ärztlichen Untersuchungen, gehen zu ordentlicher Arbeit. Diese Mormonen oder anderen Gläubigen kritisiert Tara kaum, obwohl sie sich vermeintlich kritisch zu Fundamentalismus stellt. Was sie sagt oder was man sehr leicht aus ihrer Erzählung herausliest, ist: Guckmal was passiert, wenn man versucht den Staat herauszuhalten. Wer den Staat kritisiert, geht nicht zum Arzt, lehnt Bildung ab, behandelt seine Familie so. Dass es auch auch ganz andere Staatskritiker gibt, nämlich solche, die eine Regierung über Menschen ablehnen und die sich vorstellen können dass Menschen als Freie miteinander gut leben können, ohne dass Staaten ihnen vorgeben, wie ihr Leben zu verlaufen hat, das ist nicht einmal Thema. Und dass der Staat Bildung und medizinische Versorgung (zT) gewährleistet, macht er ja nicht aus der Güte der Politikerherzen heraus, sondern weil er ein Interesse an seinen Bürger*innen als Arbeitskräfte hat, die schön die eigene Wirtschaft ankurbeln. Aus diesem Irrglauben, der Staat wäre für die Menschen da, kommt das Buch leider nicht heraus.