William Gillis ist ein Physikalist. Physik ist die grundlegende Wissenschaft, alle anderen sind nur pragmatische Abstraktionen, die sich an menschlichen Interessen orientieren. Gillis hat übrigens Physik studiert. Mit jeder Abstraktion, zum Beispiel von Chemie zu Biochemie zu Biologie zu Psychologie zu Ökonomie wird Radikalismus verloren und ist nicht mehr von Wissenschaft zu sprechen. Eine Zelle oder ein Tier existiert nicht, sondern ist eine pragmatische Zusammenfassung oder Abstraktion. Information geht hierbei verloren. Wissenschaft ist jedoch verlustfreie Kompression auf eine zugrundeliegende Dynamik und verlustfreie Reduktion. Temperatur in einem Zimmer ist ein Verlust an Information, weil nur die durchschnittliche atomare Bewegung beschrieben wird, aber fast unendlich viele Konfigurationen der einzelnen Atome den einen speziellen Durchschnitt erbringen können. Woher kommt die Kausalität, was ist auf kleinster Ebene der Beginn? Das ist der wissenschaftliche Reduktionismus.
Dem ist entgegenzusetzen, das manche Makroskalen natürlich erscheinen, z.B. eine Zelle. Ist es tatsächlich so, dass Makroskalen redundant sind, sie nur Schatten von Kausalitäten auf der Mikroebene sind? Eine Makroskala ist ein Zusammenschluss mehrerer Elemente zu einem Element. Die einzelnen Elemente können aber ähnlich wie die Atome in einem Zimmer, die die Temperatur bestimmen, unterschiedlich angeordnet werden und dennoch denselben Wert der Makroskala ergeben. Eine Makroskala ist also multipel realisierbar, und das unterscheidet die Makroskala von der Mikroskala. Diese Unterscheidung öffnet den Weg aus dem Reduktionismus.
Ein simples Beispiel: Die Mikroskala des Gehirns ändert sich dauernd, irgendwelche Atome fliegen raus, irgendwo findet ein radioaktiver Zerfall statt, aber der Geist bleibt gleich. Wo ist die Kausalität der Mikroskala? Das ist die Theorie der causal emergence. Ich kann auf keinen Fall beurteilen, was korrekt ist, aber der Reduktionismus ist wissenschaftlich diskussionswürdig.
Was sind die Hauptthesen des Buchs?
Das ist schwierig zu beantworten, weil ich den Inhalt und die Kollektion des Inhalts teils verwirrend fand. Es wird häufig zwischen verschiedenen Themen gesprungen. Da geht es um die Kritik an philosophischen Anti-Realismus, um plötzlich in einer soziologischen Beschreibung des anti-realistischen Milieus zu sein, um plötzlich eine Anekdote aus Gillis Leben zu lesen. Gillis will zeigen, dass Ideen reale Konsequenzen haben, aber ich hätte mir mehr Ordnung gewünscht.
Was ich mitgenommen habe und nicht unbedingt vom Autor gewollt sein wollte?
- Universitäten und Akademien nehmen Ideen aus Subkulturen und machen daraus Karrieren.
- Universitäten und Akademien debattieren eigentlich zum Spaß über Ideen, aber sie betrachten nicht die realen Konsequenzen der Ideen.
- Wissenschaftlichkeit, die Suche nach Wahrheit, ist radikal und emanzipatorisch
- Die neue Rechte ist postmodern in ihrer Ablehnung von Wissenschaftlichkeit, zum Beispiel Klimawandel und Verschwörungstheorien. Verschleierung, epistemische Verstümmelung sind Herrschaftstechniken. Das heißt auch, dass die neokoloniale Kritik, Wissenschaftlichkeit ist ein westliches Konstrukt und es gibt andere exakt gleichlegitime Arten der Wahrheitssuche, möglicherweise Herrschaft schützt und Leute, die wissenschaftlich nach Wahrheit streben, die es immer und überall auf der Welt gibt, unter das Rad werfen. ((Gillis weist natürlich daraufhin, dass im Namen westlicher Rationalität Verbrechen begangen worden sind, aber das sei kein Grund, Wissenschaft wegzuwerfen))
Ich finde den Stil manchmal schlecht. Teilweise ist es eher ein gestikulieren, weil gefühlt auf jeder zweiten Seite „diverse“, „vast“, „complex“ oder anderweitig unverständliche Dynamiken auftauchen, die als Argument dienen. Auch bin ich mir häufig nicht sicher, wie zuverlässig zitiert wurde, wie der Kontext eines Zitats zu bewerten ist. Es ist immer leicht, Zitate aus dem Kontext zu reißen. Gillis hat einen teils aggressiven Stil mit dem man umgehen können muss.
Ich würde das Buch empfehlen, wenn man mit den Themen Postmoderne, Wissenschaft, Reduktionismus vertraut ist. Andernfalls ist es aus meiner Sicht zu chaotisch geschrieben.
Mich hat das Buch abgeholt, weil mich die relativistischen Positionen in der Linken teils nerven. Ein gutes Beispiel ist das Buch "Emanzipatorische Wissenschaftskritik", was ich hier mal rezensiert habe.
Gillis bietet das Buch aus Überzeugung kostenfrei an und kann hier runtergeladen (Klein am Ende des Beschreibungstext) werden: store.c4ss.org/index.php/product/did-the-science-wars-take-place-the-political-ethical-stakes-of-radical-realism-preorder/