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Brandon90

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Pronomen: Er/Ihm

Interessiert an kollektiven und selbstorganisierten Ideen von Gesellschaft und Praxis.

Spoileralarm: Ich zitiere gerne und viel, wenn ihr nicht gespoilert werden wollt, lohnt es wohl eher nicht zu folgen ;)

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Eva Illouz: Explosive Moderne (Hardcover, Deutsch language, Suhrkamp) No rating

Politiken der Angst, Spiralen der Enttäuschung, Menschen in Wut. In ihrem neuen Buch blickt Eva …

Wie der Rechtswissenschaftler Daniel Markovits ausführt, hatten im Jahr 1939 fast alle Bereichsleiter der amerikanischen Einzelhandelskette Safeway ihren Berufsweg an der Kasse begonnen.³³ Das ist heute nicht mehr der Fall, weil Führungspositionen inzwischen an Hochschulabsolventen vergeben werden, so dass die formale höhere Bildung das System der Belohnung unsichtbar regelt. Mehr noch: Die Lehre von der Leistungsgesellschaft, die zur Überwindung ererbter Privilegien gedacht war, hat sich als eine Lehre zu ihrer Rechtfertigung herausgestellt, wie Michael Sandel in einem Buch zu diesem Thema gezeigt hat.³⁴ Wenn man erfolgreich ist, muss man es wohl verdient haben. Vererbt werden heutzutage nicht mehr nur Länderein oder Adelstitel, sondern auch und vor allem die Fähigkeiten, sich am Markt zu behaupten, wodurch die Leistungsgesellschaft zu einer Ideologie des Verdienthabens wird.

³³ - Daniel Markovits, "How McKinsey Destroyed the Middle Class", The Atlantic, 3. Februar 2020, [...] ³⁴ - Michael J. Sandel, Vom Ende des Gemeinwohls. Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratien zerreißt, übers. von Helmut Reuter, Frankfurt/M. 2020.

Explosive Moderne by  (Page 89 - 90)

Eva Illouz: Explosive Moderne (Hardcover, Deutsch language, Suhrkamp) No rating

Politiken der Angst, Spiralen der Enttäuschung, Menschen in Wut. In ihrem neuen Buch blickt Eva …

Die Bilder und Bedeutungen des Konsums sind zutiefst utopisch und schwelgen im Glanz fantasierten Glücks und gesellschaftlichen Erfolgs. ¹⁶ Die Märchen vergangener Tage boten vielleicht Träume, doch standen diese im Gegensatz zur Realität, wurden durch Aberglauben und Volksmund gestützt. Der moderne Tagtraum wird dagegen durch die permanente Erregung der Sinne gestützt, wie sie die hperrealistische Ästhetik von Werbung und Filmen ermöglicht, ein Realismus, der Träume so erscheinen lassen kann, als seien sie in unserer Reichweite. ¹⁷ Fantasie und Hoffnung werden dadurch zu festen unsichtbaren Größen unserer geistigen Landschaft. Romane, Zeitschriften, Werbung und - seit dem 20. Jahrhunder - Kino und Fernsehen (und neuerdings Instagram-Storys) erzeugen Traumwelten, die uns umso deutlicher vor Augen stehen, als sie von Prominenten und ihren großzügigen Lebensstilen visuell stilisiert werden. Das lässt sich empirisch nachweisen.

¹⁶ - Vgl. etwa Rolf Jensen, The Dream Society. How the Coming Shift from Information to Imagination Will Transform our Business, New York 1999. ¹⁷ - Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, "Kulturindustrie, Aufklärung als Massenbetrug", in: dies., Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente [1947], Frankfurt/M. 2008, S.128-176.

Explosive Moderne by  (Page 83 - 84)

Eva Illouz: Explosive Moderne (Hardcover, Deutsch language, Suhrkamp) No rating

Politiken der Angst, Spiralen der Enttäuschung, Menschen in Wut. In ihrem neuen Buch blickt Eva …

Was ein modernes Individuum ausmacht, ist der Umstand, dass es danach strebt, etwas zu sein oder zu tun, was es sich vorgestellt hat. Die meisten von uns träumen davon, einen höheren sozialen Status, mehr Wohlstand oder emotionales Wohlbefinden zu erlangen, als uns in die Wiege gelegt worden ist. Institutionen verweisen auf langfristige Verhaltensmuster, die von überindividuellen Faktoren geprägt sind. Ehe- oder Warenmärkte etwa sind Institutionen, die nicht vom Willen der Individuen abhängen und über die individuelle Lebenszeit hinausgehen. Die Moderne zeichnet sich durch die Verbreitung von Institutionen des Tagträumens aus, die im noch engeren Sinne als die Institutionen der Hoffnung aus der massenmedial produzierten visuellen und narrativen Kultur hervorgehen und folglich von Bildern angetrieben werden. Nächtliche Träume scheinen der privateste und unwägbarste Teil des Selbst zu sein. Doch haben nächtliche Träume und Fantasien "eine unmittelbare Verbindung mit den Situationen und sozialen Strukturen, in die sie eingebettet sind". ¹² Das gilt umso mehr für Tagträume, die bewusste geistige Vorgänge sind und daher eher die bewusste geistige Vorgänge sind und daher eher die bewussten Sehnsüchte einer Epoche in Form visueller Vignetten beinhalten. Flauberts Beschreibung von Emmas Gedanken, als sie sich in Rudolphe verliebt, legt nahe, dass es sich eher um Tagträume als um Gedanken handelt:

Sie erinnerte sich an allerlei Romanheldinnen, und diese Schar empfindsamer Ehebrecherinnen sang in ihrem Gedächtnisse mit den Stimmen der Klosterschwestern. Entzückende Klänge! Jene Phantasiegeschöpfe gewannen Leben in ihr; der lange Traum ihrer Mädchenzeit ward zur Wirklichkeit. Nun war sie selber eine der amoureusen Frauen, die sie so sehr beneidet hatte! ¹³

¹² - Gary Alan Fine und Laura Fischer Leighton, "Nocturnal Omissions. Steps Toward a Sociology of Dreams", in: Symbolic Interaction 16:2 (1993), S.95-104, hier S.99. ¹³ - Flaubert, Madame Bovary, S.220f. (meine Hervorh., E.I.).

Explosive Moderne by  (Page 82)

Eva Illouz: Explosive Moderne (Hardcover, Deutsch language, Suhrkamp) No rating

Politiken der Angst, Spiralen der Enttäuschung, Menschen in Wut. In ihrem neuen Buch blickt Eva …

Durch die Hoffnung bewirkte die Aufklärung - und die Moderne insgesamt - eine radikale Transformation des Vorstellbaren. Sie brachte das "Mögliche", das "Wünschenswerte" und das "Ideale" nicht nur in die Reichweite menschlichen Handelns, sondern verwandelte sie in intrinsische Dimensionen von Handlungsfähigkeit und Handeln. Es entstand die neue kulturelle und gedankliche Kategorie eines "möglichen Lebens", in der die grundsätzliche Formbarkeit der Person und der sozialen Welt, die vor ihr lag, zum Ausdruck kam. Das "Mögliche" war weder in einem ungreifbaren Jenseits angesiedelt, noch bestand es in einer statistischen Wahrscheinlichkeit. Es war eine neue Ressource, die die soziale Welt bot, zugleich auch eine kognitive Fähigkeit, das Selbst in die Zukunft hinein zu entwerfen, das eigene Lebensziel zu bestimmen und an der Kurve der eigenen individuellen Absichten und Entwürfe auszurichten. "Ansprüche", "Ehrgeiz", "Träume", "Sehnsucht", "Streben": die zunehmende Verbreitung dieser Begriffe zeigte das Aufkommen einer neuen sozialen Grammatik der Person an, die auf dem neuen Vokabular der Hoffnung beruhte. Das Verhältnis des Individuums zur Zeit und zu den sozialen Zwängen wurde durch die kognitiven und emotionalen Merkmale des sozialen Strebens umgewandelt. Die vorausschauende Vorstellungskraft wurde zu einem wesenhaften Bestandteil der Praxis des Individualismus. Ehrgeiz, Streben, Erwartung, Zweck, Ziel, Bestimmung, Berufung, Plan, Lebensziel, Lebenstraum - all diesen Ideen zur Ausrichtung des Selbst bezeichnen eine gleichermaßen emotionale und kognitive Eigenschaft eines im Wesentlichen zukunfts- und fortschrittsorientierten Individuums. Die Hoffnung wurde zu dem Pfeilbogen, der die Individuen unsichtbar auf sozialen Pfaden vorantrieb, die ihnen im Prinzip offenstanden und sich ihren Absichten fügten. Die westliche Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ist voll von Romanfiguren, die die Welt unter dem Leitstern ihres Ehrgeizes betreten, dieser neuentdeckten kognitiven und emotionalen Kategorie, welche durch eine sozial mobilere Gesellschaft ermöglicht und durch die Hoffnung auf Erfolg beseelt wurde.

Explosive Moderne by  (Page 44 - 45)

Eva Illouz: Explosive Moderne (Hardcover, Deutsch language, Suhrkamp) No rating

Politiken der Angst, Spiralen der Enttäuschung, Menschen in Wut. In ihrem neuen Buch blickt Eva …

Die Moderne ist eine Mischung aus vermehrten Methoden der Menschenbeherrschung und der Naturzerstörung auf der einen Seite und echtem moralischem Fortschritt auf der anderen. Nur innerhalb dieser Spannung ist sie zu denken. Und schließlich: Obwohl die meisten der von mir betrachteten Gefühle mindestens seit biblischen Zeiten "im Spiel" sind, weisen sie auch zahlreiche neue Elemente auf: ihren Gegenstand (etwa den Neid auf Personenkreise, die von Fördermaßnahmen zugunsten benachteiligter Gruppen profitiert haben), ihre Stärke und Ansteckungsgefahr (wie bei Wutkreisläufen in sozialen Medien), ihre einzigartige Kombination (zum Beispiel von hartnäckiger Hoffnung und Enttäuschung), ihre Dominanz im Bewusstsein moderner Menschen (die etwa das Gefühl der Kränkung ständig mit sich herumschleppen, sich durchgängig als Opfer fühlen), ihre Institutionalisierung (das heißt Weisen, wie sie geformt und kanalisiert werden, ob in der Konsumgesellschaft oder im Nationalismus, im Privatleben oder in der demokratischen Öffentlichkeit) sowie nicht zuletzt allein schon die Annahme, dass wir einen Anspruch auf ein emotional schmerzfreies Leben haben (was die sogenannten negativen Gefühle unerträglicher macht). All diese Elemente zusammengenommen machen die "Modernität" der hier behandelten Gefühle aus. ²⁴

²⁴ - Aus Gründen persönlichen Geschmacks und mangelnden Platzes habe ich einige zentrale Gefühle wie Schuld oder Freude ausgelassen.

Explosive Moderne by  (Page 27 - 28)

Eva Illouz: Explosive Moderne (Hardcover, Deutsch language, Suhrkamp) No rating

Politiken der Angst, Spiralen der Enttäuschung, Menschen in Wut. In ihrem neuen Buch blickt Eva …

Noch aus einem zweiten Grund ist die Moderne explosiv geworden. Unter dem enormen Einfluss der kommerzialisierten Erzählliteratur und der psychologischen Kultur spielt die bewusste Erforschung und Überwachung der eigenen Gefühle inzwischen eine entscheidende Rolle in den Selbstbeschreibungen der Menschen sowie darin, wie sie soziale Beziehungen zu anderen knüpfen und pflegen. Diese emotionale Selbsterkenntnis findet nicht mehr unter dem Vorzeichen der Charakterbildung und der Orientierung an moralischen Werten, Tugenden und dem Guten statt. Die Individuen sind in erster Linie an ihren privaten Zielen, Genüssen und Gefühlen interessiert. Wenn man Beziehungen und Identitäten frei wählen und sich beliebig wieder von ihnen verabschieden kann, wenn Arbeit und Studium das Ergebnis individueller Wahl und Ambition sind und Ehe und Intimität eine Folge von Entscheidungskünsten, dann werden Erfolg wie Misserfolg des Individuums auf diesen Feldern seiner psychischen Verfassung zugeschrieben, also seinen "emotionalen Pathologien", seiner "emotionalen Gesundheit" oder "emotionalen Intelligenz". Aus all diesen Gründen befinden sich die Individuen auf einem reflexiven Rückzug in sich selbst, befragen sie ihre Gefühle und versuchen, diese an ihre Ziele und Lebenspläne anzupassen. Gefühle werden so zu der Realität, durch die der Einzelne sich selbst und einen großen Teil seiner sozialen Welt wahrnimmt; sie verwandeln sich in die Grundlge und den Gegenstand sozialer Beziehungen und gewinnen auf diese Weise objektive Wirklichkeit. Dadurch aber wird die Wirklichkeit selbst hochgradig emotional, zu einer Abfolge von emotionalen Transaktionen, die explosiv werden können, gerade weil der Inhalt des Gefühlslebens, als fester Grund der Realität, so ernst genommen wird. Die Gefühle sind zur Realität der Individuen geworden, zu ihrer umkämpften Realität, zu dem, was sie zu gestalten und zu kontrollieren versuchen und worum sie mit anderen ringen.

Explosive Moderne by  (Page 26 - 27)

Eva Illouz: Explosive Moderne (Hardcover, Deutsch language, Suhrkamp) No rating

Politiken der Angst, Spiralen der Enttäuschung, Menschen in Wut. In ihrem neuen Buch blickt Eva …

Die auf den ersten Blick naheliegende Annahme, dass sich Emotionen in stärkerem Maße innerhalb des Selbst abspielen als beispielsweise das Sprechen, ist falsch. Sie stehen vielmehr an der Schwelle zwischen äußerem und innerem Selbst. Emotionen sind liminal (vom lateinischen Ausdruck für Schwelle: limen). [...] Anders gesagt: Die (meisten) Gefühle sind der Dialog, den wir sotto voce mit der Welt führen. Durch Gefühle internalisieren wir die äußere Welt und externalisieren wir unsere innere Welt, und zwar fortwährend und nahtlos.¹⁷ Wie die ausgeschnittenen Figuren in einem Schattenspiel sind Emotionen zu erkennen, weil es hinter ihnen eine Lichtquelle - die sozialen und kulturellen Ursachen - und eine durchscheinende Leinwand gibt, auf die sie projiziert werden können - eine konkrete soziale Situation mit bestimmten Individuen, die in ihr agieren.

¹⁷ - Vgl. Philippe Corcuff, Les nouvelles sociologies. Entre le collectif et l'individuel, Paris 2017, S.11-18.

Explosive Moderne by  (Page 18)

Eva Illouz: Explosive Moderne (Hardcover, Deutsch language, Suhrkamp) No rating

Politiken der Angst, Spiralen der Enttäuschung, Menschen in Wut. In ihrem neuen Buch blickt Eva …

Fledermäusen gleich, die Signale aussenden, um Hindernisse auf ihrer Flugbahn zu erkennen, nutzen wir unsere Emotionen, um halbbewusst und halbblind zu ergründen, in welchem Ausmaß sich die Welt unserem Streben entgegenstellt, was wir in dieser Welt begehren und welche Rolle wir in ihr spielen sollen. Emotionale Reaktionen sind sowohl die Folge unsichtbarer Ketten von Ursachen, die ihnen vorausgehen, als auch Strategien, um ebendiesen Prozess zu verstehen und zu steuern. Gefühle verlängern gewissermaßen den Arm der Gesellschaft im Selbst. Durch ihren sozialen Charakter verfügen Gefühle außerdem über eine kulturelle und soziale Grammatik, die uns hilft, Vermutungen über die Gefühle anderer anzustellen, Schlüsse über die Gefühle realer oder fiktiver Personen zu ziehen und die emotionalen Reaktionen anderer vorauszuahnen. All das und noch viel mehr können wir tun, weil wir mit anderen Menschen das Wissen um die Regeln und Normen teilen, die unseren und ihren Gefühlen zugrunde liegen. Die Sprache spielt hier eine entscheidende Rolle. [...] Wir benennnen, was wir fühlen (oder nehmen gedanklich vorweg, was andere uns gegenüber empfinden), indem wir uns unbewusst auf die Definitionen der Situationen, in die wir verstrickt sind, beziehen, auf ihre "Gebote" und "Verbote". Wir verarbeiten Erlebnisse, indem wir die emotionalen Etiketten aufrufen, die ihnen anhaften, und die Kultur liefert diese Etiketten, indem sie uns hilft, all die Elemente, die sich in unserem Innenleben tummeln, zu benennen, zu klassifizieren, zu kategorisieren und zu interpretieren.

Explosive Moderne by  (Page 16 - 17)

Eva Illouz: Explosive Moderne (Hardcover, Deutsch language, Suhrkamp) No rating

Politiken der Angst, Spiralen der Enttäuschung, Menschen in Wut. In ihrem neuen Buch blickt Eva …

Emotionen sind schnelle Reaktionen auf die Welt, weshalb oft behauptet worden ist, sie ünberstiegen die Grenzen der Vernunft und führten uns in die Irre: ³ Sie schließen das langsame Denken kurz, umgehen unseren Willen und missachten unser mutmaßliches Interesse. [...] Thomas Mann drückt denselben Gedanken noch dramatischer aus: Für ihn erlangen Männer und Frauen nicht nur ihre volle Menschlichkeit durch ihre Emotionen, sondern der "Mensch ist göttlich, sofern er fühlt". ⁶ Gefühle irren sich nie: Sei dir deiner Gefühle bewusst, dann wirst du authentisch sein und ein wahrhaft sinnerfülltes Leben führen. Emotionale Authentifizität ist zum Echtheitssiegel für geistige Gesundheit und glück geworden, eine Botschaft, die sowohl auf allen Ebenen der Hoch- und Populärkultur als auch durch die Mammutindustrie der psychologischen Beratung endlos recycelt wird. ⁷ Diese beiden gängigen Auffassungen von Gefühlen - als Irrtum oder als Wahrheit - blende ich im Folgenden aus. Stattdessen setze ich an der Prämisse an, dass unsere Emotionen stilisierte Momente des Seins sind, Momente, in denen wir uns in einer bestimmten Art und Weise auf eine Situation einlassen, mitunter Hals über Kopf. [...] Unsere Emotionen haben viel damit zu tun, wer wir sind, nicht nur als Personen mit einer je einzigartigen Geschichte und seelischen Grundverfassung, sondern auch - und manchmal vor allem - als Angehörige von Gruppen und Kulturen, die unserem Innenleben eine große Menge unsichtbarer Schranken auferlegen. [...] Ohne dass uns dies bewusst wäre, umfassen und verkörpern Gefühle die zentralen Bestandteile der Gesellschaft. Normen, Regeln, soziale Strukturen, kulturelle Leitlinien bilden das unsichtbare, aber brennende Magma der Gefühle, den Glutkern ihrer Energie. ⁸

³ - Robert C. Solomon, "The Philosophy of Emotions", in: Michael Lewis und Jeanette M. Haviland (Hg.), Handbook of Emotions, New York 1993, S.3-16. ⁶ - Thomas Mann, Der Zauberberg [1924], Gesammelte Werke in Einzelbänden, Frankfurt/M. 1981, S.846. ⁷ - Als Beispiele aus einer schier endlosen Reihe: Sonja Lyubomirsky, Glücklich sein. Warum Sie es in der Hand haben, zufrieden zu leben [2007], übers. von Jürgen Neubauer, aktualisierte Neuausgabe, Frankfurt/M. 2018; Brené Brown, Velretzlichkeit macht stark. Wie wir unsere Schutzmechanismen aufgeben und innerlich reich werden, übers. von Margarethe Randow-Tesch, München 2013. ⁸ - Jack M. Barbalet, Emotion, Social Theory, and Social Structure. A Macrosociological Approach, Cambridge, New York 2001; Jan E. Stets und Jonathan H.Turner (Hg.), Handbook of the Sociology of Emotions, Bd. II, Dordrecht 2014.

Explosive Moderne by  (Page 10 - 11)

Dieter Kafitz: Johannes Schlaf - Weltanschauliche Totalität und Wirklichkeitsblindheit (Deutsch language, De Gruyter) No rating

Die Reihe Studien zur deutschen Literatur präsentiert herausragende Untersuchungen zur deutschsprachigen Literatur von der Frühen …

Die dargestellten Bauern erscheinen als traditionsverwurzelte, bodenständige, altehrwürdige Gestalten, als Träger konservativ-völkischer Tugenden wie Familien-, Sippen- und Heimatgefühl. Gemütswerte verbinden sie mit Ausdauer und Kraft. Von den solchermaßen verklärten Bauerngestalten erhoffte sich Schlaf im Sinne Langbehns ein Wiedererstarken deutschen Rassengeistes: Hier blüht Innenversenkung, die mit zäher, treuer Liebe die Wurzeln der Seele tiefer und unzerreißlicher in dies stille, warme Heimatleben einsenkt; aus der zu seiner Stunde, auch der Zorn erwächst und die gerechte Vergeltung, alter Furor Teutonicus, dessen Rasse, wie schon einst, wo's icht anders geht, mit dem Schwert die Grenze setzen wird seines Bishierherundnichtweiter! - - (S.72f.).²⁸ Die bäuerlichen Tätigkeiten werden nicht als soziale Milieustudien oder idyllische Genreszenen wiedergegeben, sondern ins Zeitlos-Exemplarische erhoben. Am Anfang des Kapitels "Kornduft" steht der Ich-Erzähler am Fenster und blickt sinnierend in die abendliche Landschaft; angeregt durch den Duft des Getreides, tauchen in ihm Vorstellungsbilder vom jahreszeitlichen Wechsel des landwirtschaftlichen Alltags auf. Das Staturische, Würde und Kraft Ausstrahlende der Situationen erinnert an bildnerische Darstellungen im Umkreis der Heimatkunstbewegung und an die Monumentalisierung bäuerlichen Lebens, wie sie in der Zeit des Nationalsozialismus üblich wurde. ²⁹ Der pflügende oder säende Landmann war ein beliebtes Motiv der zeitgenössischen Malerei. Die entsprechenden Szenen in "Ein Wildgatter schlag' oich hinter mir zu..." wirken wie eine literarische Umsetzung solcher Bilder: Das langsame, kopfnickende, stumme Vorwärts der dicken Bauernpferde oder der bedächtigen, kraftvoll heroisch schönen Stiere vor dem Pflug [...] Der Bauer, die Fäuste um die Sterzen gepreßt, mit Ho! und Ha! und Hott! und Hüst! oder einem gelegentlich derben Fluch [...] Und der Bauer, das Säelaken vorgebunden, die Breite abschreitend mit dem rhythmischen Schwung des die Saat ausschleudernden Armes; wenn man ordentlich hinsieht, kann man wohl auch noch aus der Ferne den fein verhuschenden Golddunst wahrnehmen, den der ausfliegende Schauer der Körner in der Luft macht (S.33). Der Bemerkung vom genauen Hinsehen zum Trotz handelt es sich gerade nicht um die Wiedergabe objektiv beobachteter Vorgänge, sondern um eine innere Schau des in Gedanken versunkenen Erzählers. "Es ist Heimat, Vaterland, tiefstes Eingwurzeltsein", heißt es (S.33f.). Die in ihm aufsteigenden urtümlichen Bilder projiziert er auf die Erscheinungen, die bäuerliche Tätigkeit wird zum religiösen Dienst an der Natur erhoben und mit völkischen Akzenten versehen. Gegen Ende der Skizze "Kornduft" beschwört der Erzähler ein kommendes Menschengeschlecht, das seinen Ausgangspunkt in der bodenständigen, von der entarteten Großstadtzivilisation abgehobenen bäuerlichen Tradition hat. In den anschließenden Abschnitten wird der Gedanke der zukünftigen völkischen Erneuerung mit rassentheoretischen Überlegungen verknüpft gemäß dem in Schlafs naturphilosophischen Schriften genauer dargelegten Evolutionskonzept (vgl. Kapitel IX). Im Rahmen einer organischen Entfaltung der Natur sieht er die gemanisch-deutsche Rasse als eine den Entwicklungsprozeß vorantreibende Elite und Wegbereiter eines höheren Menschentums. Ihr Machtwille stellt sich damit als naturgesetzliche Notwendigkeit dar und erscheint im Unterschied zu den Hegemonialbestrebungen anderer Nationen gerechtfertigt. Indem die Vorherrschaft des deutschen Volkes der gesamten Menschheit zugute kommt, kann der Patriotismus zur sittlichen Aufgabe im Dienste der Evolution, zur "religiöse[n] Gottpflicht" (S.56) erklärt werden. Das von Schlaf entworfene heroische Bild des niedersächsischen Bauerntums bedeutet vor diesem Hintergrund keine Verfälschung der Realität, die Darstellung entspricht vielmehr seinem Naturalismus-Konzept, insofern dieses - wie in Kapitel V gezeigt wurde - auf Erfassung der tieferen Gesetze der Natur zielt, d.h. hier der durch rassenbiologische Faktoren vorangetriebenen Evolutionsvorgänge. Die in "Ein Wildgatter schlag' ich hinter mir zu..." hervortretenden Ansätze eines Neumenschentums werden mit konkreten zeitgeschichtlichen Ereignissen in Verbindung gebracht. Während solche Bezüge in den früheren "Dingsdda"-Skizzen fast völlig fehlten, allenfalls in Form ironisch kommentierter Zeitungsnotizen auftauchten, dienen sie nun zur Begründung der Notwendigkeit einer völkischen Erneuerung. Erschreckend undifferenziert reproduziert Schlaf dabei die Propagandaklischees der politischen Rechten in der Weimarer Republik. Von der "Dolchstoßlegende" über den Versailler "Schandvertrag", "Kriegsschuldlüge", "Rechtsbrüche" der Entente bis hin zur "betrügerischen Politik" Wilsons und dem pazifistischen "Völkerbrei" macht er sich das zeitgenössische Vokabular zu eigen. Deutrschland erscheint von machtgierigen Feinden umkreist, wobei sich amerikanischer Großkapitalismus und englischer Krämergeist besonders hervortun. Ein extremes Beispiel solcher Schlagzeilenrealität sei hier zitiert, weil es zu zeigen vermag, wie unkritisch Schlaf in Inhalt und Sprachverwendung den konservativ-nationalistischen Vorurteilen der Zeit folgte. Der Erzähler reflektiert während der Bahnfahrt nach Dingsda über die gegenwärtigen Zustände des Deutschen Reiches und ihre Ursachen: Im Weltkrieg die Sünden der Etappe! Die Schmach des "Dolchstoßes von hinten", da das letzte auf dem Spiel stand! Der Kriegswucher, das Schiebertum, die Streiks, die Greuel der Putsche! Der Zwist der Parteien, die Ohnmacht der Regierungen! Die Beamtenplage, der Luxus, die Vergnügungswut, die Unzucht, die grassierenden Morde, die Verwahrlosung der Jugend! Der Niedergang des Geistigen, der Künste! Der Zusammenbruch der Religion! (S.4). Diese verzerrte Wahrnehmung der politischen Wirklichkeit bildet die affektive Grundlage für die völkisch-patriotischen Appelle des vierten "Dingsda"-Bandes. Am Anfang von "Wildgatter schlag' ich hinter mir zu..." steht ein prosalyrischer Vorspann, dessen Überschrift zum Gesamttitel des Bandes erhoben wurde. Das lyrisch-erzählerische Ich begibt sich, die Zivilisation hinter sich lassend - was durch das Zuschlagen des Wildgatters angedeutet wird -, in die Bergeinsamkeit. Hier kommt es angesichts der Stille und Weite der Landschaft zu einer Entgrenzung des Ichs, die wie in vergleichbaren Situationen früherer Skizzen als Sinneserweiterung erfahren wird. Im identischen Einklang mit den Tönen und Formen der Natur löst sich das Tagesbewußtsein auf. Anders aber als in den frühen "Dingsda"-Geschichten, in denen die teils impressionistischen teils ironisch gezeichneten genrehaften Dorfbilder weitgehend unberührt von den monistisch-religiösen Naturerlebnissen des Ich-Erzählers blieben, erfaßt in "Ein Wildgatter schlag' ich hinter mir zu ..." die wirklichkeitsenthobene Schau der prosalyrischen Einleitung auch die Darstellung der Alltagsrealität der folgenden Skizzen, die einem völkisch akzentuierten Evolutionskonzept verpflichtet ist. Ausdrücklich macht der Erzähler darauf aufmerksam, daß er nicht des dörflichen Stillebens wegen nach Dingsda gekommen sei, sondern um sich der "ausströmenden Urkraft" der Landschaft hinzugeben (S.10f.), die ihm zum Hoffnungszeichen für die Überwindung des vaterländischen Elends wird. Aus dieser Einstellung heraus erfolgt die völkische Heroisierung nicht nur des niedersächsischen Bauerntums, sondern auch der Natur selbst. Das Rauschen des Waldes, in der "Sturm"-Skizze aus "Tantchen Mohnhaupt und Anderes" Ausgangspunkt kosmischer Alleinheitsvisionen, wird nun auch als vaterländischer Schauer erfahren (S.12); die Eichen erscheinen als "Deutschlands und deutschen Volkswesens Baum und Sinnbild" (S.84), sie verbürgen die Erwähltheit des deutschen Volkes, seine ewige Dauer und seinen baldigen Wiederaufstieg. Der vom Ausgang des Ersten Weltkrieges und der weiteren politischen Entwicklung enttäuschte Schlaf läßt seinen Erzähler aus der Berührung mit der niedersächsischen Landschaft und ihrer bäuerlichen Bevölkerung ein neues Kraftgefühl schöpfen. Voraussetzung eines solchen vaterländischen Erlebens und der damit verknüpften Visionen einer Erhebung und Vollendung Deutschlands ist die Entrealisierung der Wahrnehmung, es kommt zur heroisierenden Verklärung der dörflichen Welt. Der Stadt-Land-Gegensatz, der sich in dem "Dingsda"-Band von 1913 in einem umfassenden monistischen Naturgefühl auflöste, tritt wieder in Kraft. Anders als bei dem in den Skizzen der 90er Jahre angedeuteten Zivilisationsgefälle zugunsten der Stadt wird nun der entwurzelten städtischen Welt die heilende Kraft der Scholle gegenübergestellt. Die völkische Ausrichtung des monistischen Naturalsismus in "Ein Wildgatter schlag' ich hinter mir zu ..." hat ihre Parallelen in den gleichzeitigen kunsttheoretischen Überlegungen Schlafs (vgl. Kapitel V). Seine Überzeugung, daß die ästhetische hinter der weltanschaulichen Zielsetzung zurückzutreten habe, führte in der dichterischen Praxis zu einer Ideologisierung, die auch stilistische Konsequenzen hatte. Die Sprache nähert sich der programmatischen Wissenschaftsprosa der theoretischen Schriften an. Die Erlebnisunmittelbarkeit früherer "Dingsda"-Skizzen und der "Frühlings"-Dichtung, die sich an Höhepunkten des Alleinheitsfühlens in einem Aufbrechen der Syntax, in Wortgestammel und Verstummen ausdrückte, vermischt sich mit spekulativen Reflexionen. Selbst die Widergabe naturmonistischer Wahrnehmung in der prosalyrischen Einleitung gibt den dahinter stehenden theoretisierenden Autor zu erkennen, wodurch sie ihren spontanen Charakter einbüßt, sie erweist sich als rhetorische Strategie im Dienste eines weltanschaulichen Konzeptes.

²⁸ - Diese und die folgenden Seitenangaben beziehen sich auf Johannes Schlaf: Ein Wildgatter schlag' ich hinter mir zu ... Vaterländisches aus Dingsda, 1922. ²⁹ - Zu den volkhaft-archaischen Tendenzen in der Malerei um 1900 vgl. Richard Hamann/Jost Hermand: Stilkunst um 1900, 1973, S.344ff. Zur heroisierenden Darstellung des Bauerntums im Nationalsozialismus vgl. die Abbildungen und Erläuterungen im Kapitel "Die Darstellung des Bauern", in: Kunst im 3.Reich. Dokumente der Unterwerfung, 1979, S.310-346.

Johannes Schlaf - Weltanschauliche Totalität und Wirklichkeitsblindheit by  (Studien zur deutschen Literatur, #120) (Page 116 - 119)

Dieter Kafitz: Johannes Schlaf - Weltanschauliche Totalität und Wirklichkeitsblindheit (Deutsch language, De Gruyter) No rating

Die Reihe Studien zur deutschen Literatur präsentiert herausragende Untersuchungen zur deutschsprachigen Literatur von der Frühen …

Abneigung bekundet der Erzähler auch gegenüber aktuellen politischen Nachrichten, als "Zeitungsmißgeburt" (S.62) erscheinen sie ihm, er will davon ebenso wenig hören wie von dem "Geschwätz" über Sittlichkeit und Wahrheit (S.179) und dem "Humanitätsdusel" der Gebildeten (S.80). Für den Begriff "Humanitätsdusel", ⁹ der dem aufklärerisch-liberalen Menschlichkeitsideal einen negativen Akzent verleiht, kann Schlaf als Wortschöpfer oder wenigstens als früher Verbreiter gelten; in einer Untersuchung über den Sprachgebrauch des radikalen Konservatismus zwischen Reichsgründung und Machtübernahme Hitlers wird das mit einem abwertenden Nebensinn versehene Wort als polemischer Ausdruck seit dem Ersten Weltkrieg verzeichnet. ¹⁰

⁹ - Der Begriff findet sich auch in "Stille Welten. Neue Stimmungen aus Dingsda", 1899, S.29. ¹⁰ - Vgl. Synnöve Clason: Schlagworte der "konservativen Revolution". Studien zum polemischen Wortgebrauch des radikalen Konservatismus in Deutschland zwischen 1871 und 1933, 1981, S.58f. Otto Ladendorf verzeichnete 1906, im Erscheinungsjahr seines "Historischen Schlagwörterbuchs", das Wort "Humanitätsdusel" als "modernen Ursprungs" (S.129).

Johannes Schlaf - Weltanschauliche Totalität und Wirklichkeitsblindheit by  (Studien zur deutschen Literatur, #120) (Page 105)

Dieter Kafitz: Johannes Schlaf - Weltanschauliche Totalität und Wirklichkeitsblindheit (Deutsch language, De Gruyter) No rating

Die Reihe Studien zur deutschen Literatur präsentiert herausragende Untersuchungen zur deutschsprachigen Literatur von der Frühen …

Die Nazifizierung der Weltkunstanschauung Schlafs kommt nicht überraschend, sie erweist sich vielmehr als Endpunkt einer kontinuierlichen Entwicklung, die sich an der Entfaltung des Naturalismus-Begriffs ablesen läßt. In den erwähnten Aphorismen aus dem Jahre 1937 findet keine Umorientierung statt, die wichtigsten Aspekte der früheren dichtungstheoretischen Aufsätze tauchen alle wieder auf und verbinden sich bruchlos mit dem Bekenntnis zum Dritten Reich. Bis zuletzt dient der Naturalismus als zentraler Orientierungspunkt der Überlegungen. Ohne einen Namen zu nennen, aber doch deutlich erkennbar, grenzt er sich in den Aphorismen von seinem rüheren Mitstreiter Arno Holz ab, dessen Kunstgesetz er als Tiefpunkt eines seelenlosen Dichtungsverständnisses zitiert. Zwar vermeidet er bei seinem Gegenentwurf den bei den Nationalsozialisten umstrittenen Naturalismus-Begriff, die näheren Charakterisierungen entsprechen aber genau demjenigen Konzept, das er zuvor auf den Nenner einer "Vollendung des Naturalismus" gebracht hatte. Das Wesen der Kunst wird als religiös bestimmt, ihr Ursprung auf ein allumfassendes identisches Erleben zurückgeführt. Die zusammenfassende Definition:

Das Wesen der Kunst liegt in dem religiösen Urtrieb der künstlerischen Individualität, der sich durch dieselbe auf die Vielheit aller bewegten und statischen Erscheinung als auf sich selbst richtet, sich aus derselben hervor selbst erkennt und in lautlichen und bildlichen Typen und Sinnbildern gestaltet und weitergestaltet, ⁶⁵

ist mit kleinen Modifizierungen ein Selbstzitat aus der schon 1906 erschienenen Abhandlung "Kritik der Taineschen Kunsttheorie", in der sich Schlaf mit dem naturalistischen Milieu-Begriff auseinandersetzte. ⁶⁶ Außer dem sprachreinigenden Austausch von "Symbol" durch "Sinnbild" kam nur der Zusatz "als auf sich selbst" hinzu, der das monistisch-identische Fühlen des künstlerischen Ichs deutlicher hervortreten lassen soll. Daß sich Schlaf auf ein dreißig Jahre zuvor von ihm formuliertes Kunstgesetz beruft, vermag die Stetigkeit seiner Vorstellungen zu bezeugen. Auch die Verbindung der Kunst mit dem "Auftrieb deutscher Volks- und Rasseseele" in den Aphorismen, ⁶⁷ die in der Abhandlung über Taine noch fehlte, ist nicht erst Folge eines nationalsozialistischen Einflusses, sie findet sich bereits im rassenbiologischen Tenor der frühen Whitman-Aufsätze und in der zunehmenden Betonung völkischer Wurzeln des Naturalismus spätestens seit dem Ersten Weltkrieg. Die Vollendung des Naturalismus im Nationalsozialismus wirkt nur dann befremdlich, wenn man sie auf die verbreitete Auffassung von einer sozialkritisch und wissenschaftlich-analytisch ausgerichteten naturalistischen Programmatik bezieht. Eine solche Betrachtungsweise ist aber einseitig, sie verkennt die herausragende Bedeutung darwinistisch-evolutionistischer Vorstellungen für das Selbstverständnis der deutschen Naturalisten. Wirklichkeit wird von ihnen als monistische Natur bestimmt, die das gesamte anorganische und organische Leben einschließlich der psychophysischen Entwicklung des Menschen umfaßt. Der Dichter zielt nicht auf die Natur als Objekt der Erkenntnis, er ist Natur und erspürt als solche in unmittelbarem Erleben die kosmischen Evolutionsprozesse. Die wiederkehrenden Bestimmungskategorien des Schlafschen Naturalismus-Konzepts wie "synthetisch", "monistisch", "identisch", "religiös" sind demnach keine kunsttheoretischen, sondern weltanschauliche Begriffe. Hinzu kommt die mit dem evolutionistischen Denken verbundene biologistische Anthropologie, die eine Affinität zu rassistischen Vorstellungen hat. Bedenkt man schließlich noch, daß die bewußte Abkehr von genauer Beobachtung und kritischer Analyse der Realität von einem Desinteresse an der konkreten Lebenswelt zeugt, das den Blick für die tatsächlichen sozialen und politischen Vorgänge zunehmend trübte, verwundert es nicht mehr, daß die nationalsozialistische Ideologie einer rassentheoretisch begründeten und zugleich mystischen Volksgemeinschaft als Erfüllung der naturalistischen Weltanschauung gesehen werden konnte. Das skizzierte weltanschauliche Naturalismus-Verständnis Schlafs findet sich in modifizierter Form auch bei anderen deutschen naturalistischen Autoren wie Heinrich und Julius Hart, Wilhelm Bölsche und Bruno Wille, es läßt sich in der vitalistischen Komponente des Gerhart Hauptmannschen Menschenbildes ebenso nachweisen wie in der monistisch-evolutionistischen "Phantasus"-Dichtung von Arno Holz. Trotz unterschiedlicher individueller Ausprägung gibt sich eine allen gemeinsame Anschauungsform zu erkennen. Der damit verbundene Verfall kritisch-aufklärerischen Denkens führte nicht nur bei Schlaf zu einem fatalen Verkennen des Dritten Reiches. So bekannte sich z.B. auch Wilhelm Bölsche in einer Broschüre mit dem Titel "Was muß der neue deutsche Mensch von Naturwissenschaft und Religion fordern?" zum völkisch-rassistischen Ideengut der Nationalsozialisten, von denen er die Vollendung der Naturwissenschaft erwartete. ⁶⁸ Die Parallele soll andeuten, daß Schlafs Verständnis von einer Erfüllung des Naturalismus im Nationalsozialismus keinen singulären Vorgang darstellt, daß es vielmehr im zeitgenössischen Vorstellungshorizont verankert ist, der wesentlich durch eine biologistisch-evolutionistische Naturauffassung geprägt wurde, die sich bereits Ende des 19. Jahrhunderts herausbildete.

⁶⁵ - Johannes Schlaf: Aphorismen über das Wesen der Kunst, 1937, S.327. ⁶⁶ - Johannes Schlaf: Kritik der Taineschen Kunsttheorie, 1906, S.60. ⁶⁷ - Johannes Schlaf: Aphorismen über das Wesen der Kunst, 1937, S.329. ⁶⁸ - Wilhelm Bölsch: Was muß der neue deutsche Mensch von Naturwissenschaft und Religion fordern?, 1934, S.11f.

Johannes Schlaf - Weltanschauliche Totalität und Wirklichkeitsblindheit by  (Studien zur deutschen Literatur, #120) (Page 98 - 100)